Prof. Dr. Claus-Steffen Mahnkopf

Johannes Kiem nachschöpferische Klavierwelt

Der Pianist Johannes Kiem vermag das Unglaubliche: Wagnersche Tristanharmonik auf dem pianistischen Niveau von Liszts h-moll Sonate – live, in Realzeit komponiert über Themen auf Zuruf. (…) Würden die Stücke, die in den Konzerten entstehen, notiert und musiktheoretisch analysiert, sähen wir, daß Johannes Kiem streng mit den Kompositionstechniken und plastischen Klaviersätzen des 19. Jahrhunderts arbeitet. (…)
(Es) entstehen auf pianistisch äußerst feinfühlige Weise, aus dem Geiste der Wagnerschen Harmonik, im Habitus der Klavierästhetik des 19. Jahrhunderts formal geschlossene Stücke, die allen kompositorischen Anforderungen genügen – mit der Besonderheit, daß wir keines von ihnen je gehört hätten. Es sind stets Uraufführungen.

Prof. Dr. Claus-Steffen Mahnkopf
(Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater “Felix Mendelssohn Bartholdy” Leipzig)

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Prof. Dr. Claus-Steffen Mahnkopf

Johannes Kiem nachschöpferische Klavierwelt

johannes-kiem-klavier-live-komposition-4Der Pianist Johannes Kiem vermag das Unglaubliche: Wagnersche Tristanharmonik auf dem pianistischen Niveau von Liszts h-moll Sonate – live, in Realzeit komponiert über Themen auf Zuruf. Er bewegt sich häufig im Spannungsfeld zwischen Liszt und Wagner, welcher einmal äußerte: „… daß ich seit meiner Bekanntschaft mit Liszts Kompositionen ein ganz anderer Kerl als Harmoniker geworden bin, als ich vordem war …“ Würden die Stücke, die in den Konzerten entstehen, notiert und musiktheoretisch analysiert, sähen wir, daß Johannes Kiem streng mit den Kompositionstechniken und plastischen Klaviersätzen des 19. Jahrhunderts arbeitet.

Die vorgegebenen Motive werden mit den kompletten Mitteln der Wagnerschen Alterationsharmonik durchgeführt und verarbeitet. Wir hören Mediantik und Enharmonik, sowohl Tritonussubstitution als auch enharmonische Grundstufenmodelle, den Halbverminderten als weitreichende Weiche sowie Umdeutungsmodulationen über den Neapolitaner. Und wir haben schlußendlich die sogenannte Chromatik, die dem Ganzen unendliche Bewegungsmöglichkeiten eröffnet. Dementsprechend entsteht auch dort, wo das Ausgangsmotiv es anbietet, das Ausloten von Grenzbereichen der Tonalität wie beim frühen Schönberg oder Alban Berg, impressionistische Schichttechniken oder die „Dauer-Enharmonik“ des mittleren Scriabin.

Was Kiem hervorzaubert, wird durch die Satzmodelle der Klavierkomponisten des 19. Jahrhunderts – Chopin, Liszt oder Scriabin – geformt. Besonders die „unstationäre“ Klaviertechnik von Franz Liszt (der wie Chopin ebenfalls ein „Live-Improvisator“ war) ist zu erkennen. So entstehen Passagenwerktechniken und Sequenzmodelle, Vergrößerungen, Verbreiterungen sowie polyphone Satzstrukturen durch mittel- und unterstimmige Führungen des Themen-Materials. Der virtuose Gestus wird durch eruptive Ausbruchsmomente und archaische Einbruchspassagen, gepaart mit der Lisztschen Profundität im Unprofunden (und anders herum) bestimmt. Tänzerisch-rhythmische Gespanntheit und nonchalante Halbseidigkeit, wo nötig, runden den bewegten Charakter der Stücke ab.

Andererseits variieren Form und Klaviersatz bei Kiem abhängig vom gewählten Ausgangsmotiv, so daß gleichermaßen chopinartige Nocturne-Momente entstehen, wie die Stilistik in den fluiden Satz Scriabins gleitet. Die musikalische Gestalt wird dementsprechend immer neu und facettenreich durch die vorgegebenen Themen moduliert.

Das bedeutet, daß diese Stücke weder akademische Stilstudien sind, noch entsprechende Motive in Jazz und Latin Grooves oder vorgefertigte barock-klassische Sätze gepackt werden. Es findet sich hingegen ein strenger kompositorischer Aufbau, durch den virtuose Konzertstücke mit originärer Qualität in Echtzeit komponiert werden. Die so entstandenen Stücke sind vielschichtige Musik. Der Begriff Improvisation, wie er immer wieder benutzt wird, reicht hier zur Charakterisierung bei weitem nicht aus; er zeugt von Hilflosigkeit und ist streng genommen falsch. Vielmehr entstehen auf pianistisch äußerst feinfühlige Weise, aus dem Geiste der Wagnerschen Harmonik, im Habitus der Klavierästhetik des 19. Jahrhunderts formal geschlossene Stücke, die allen kompositorischen Anforderungen genügen – mit der Besonderheit, daß wir keines von ihnen je gehört hätten. Es sind stets Uraufführungen.

Prof. Dr. Claus-Steffen Mahnkopf
(Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig)